Tuesday, March 21, 2023

Der Westen ist hypermoralisch und hat doppelte Standards: Das nutzt China aus (Thomas Fasbender)


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Thomas Fasbender

Der Westen ist hypermoralisch und hat doppelte Standards: Das nutzt China aus

Die Beurteilung des russischen Angriffskriegs fällt im Westen eindeutig aus. Das ist richtig so. 
Aber mit den eigenen moralischen Schwächen nimmt man es nicht so genau. 

Ein Gastbeitrag - Thomas Fasbender

Handelsblockaden, heutzutage Wirtschaftssanktionen genannt, haben eine lange Geschichte: das antike Athen gegen die Megarer, die mittelalterliche Hanse gegen Kaufleute aus Norwegen, Napoleons Kontinentalsperre gegen Großbritannien 1806. Bis in die Moderne dienten Embargos zur Durchsetzung wirtschaftlicher und politischer Ziele von Einzelstaaten und Bündnissen.

Mit den weltumspannenden Institutionen Völkerbund und Vereinte Nationen traten dann multilaterale Ziele in den Vordergrund: die Sicherung bestehender Ordnung, die Durchsetzung etablierter Normen. Noch das erste UN-Exportembargo, 1966 gegen das damalige Rhodesien verhängt, zielte auf die Restitution des britischen Kolonialregimes; die weißen Kolonisten hatten widerrechtlich ihre Unabhängigkeit erklärt.

Politik heißt Herrschaft und Macht

Mit dem Ende des Kalten Krieges, dem vermeintlichen „Ende der Geschichte“, traten zunehmend die USA und ihre Verbündeten als Hüter von Recht und Ordnung auf. Seinem Selbstverständnis nach verteidigt der sogenannte globale Westen, also die europäisch geprägten Länder beider Hemisphären, die Autorität der „regelbasierten Weltordnung“ – einer Ordnung, die angeblich (ein Lieblingsargument deutscher Diplomaten) „auf der Stärke des Rechts und nicht auf dem Recht des Stärkeren“ beruht. In denselben Zusammenhang gehören Begriffskonstrukte wie Staatengemeinschaft oder internationale Gemeinschaft als angeblich willensbildende Instanz, ähnlich wie Journalisten gerne von der „Menschheit“ sprechen, die angeblich den Klimawandel bekämpft.

In der Realität begegnen wir hier keiner globalen Perspektive, sondern einer sehr eurozentrischen: Die in Rede stehenden Wert- und Ordnungsvorstellungen wurzeln in der europäischen Denktradition und in keiner anderen. Wir übersehen auch gerne, dass Politik im 21. Jahrhundert genau das Gleiche zum Gegenstand hat wie vor 2000 Jahren: nicht das Gute, Wahre, Schöne, sondern Herrschaft und Macht. Ordnung setzt unter allen Umständen Macht voraus, Autorität. Dasselbe gilt für postulierte Rechte, auch Menschenrechte. Ohne die Macht, sie durchzusetzen, sind es leere Forderungen; Rechte bleiben Denkfiguren, solange nicht eine Zivilisation ihnen realen Raum schafft.

Was bedeutet moralische Hybris?

Zugleich erleben wir eine unübersehbare Tendenz zur Moralisierung der Politik. Steckt hinter dieser Flucht in Werte eine Selbsttäuschung? Verdrängen wir so unsere wachsende Irrelevanz? Wie lange kann der globale Westen, der keine 15 Prozent der Weltbevölkerung und inzwischen weniger als die Hälfte der Weltwirtschaftsleistung repräsentiert, noch Macht projizieren?

Die hier vertretene These: Unsere Ambitionen werden gleich dreifach scheitern – an moralischer Hybris, an den eigenen Widersprüchen und an der Mobilisierung des Gegners.

Der Reihe nach. Was bedeutet moralische Hybris? In Deutschland ist unser übersteigerter Demokratenstolz ein gutes Beispiel. Wer nicht so demokratisch ist wie wir, kann gleich wieder einpacken; das beginnt hinter der polnischen Grenze. Ohne Rücksicht auf Verluste, auf Konflikt oder Eskalation, propagieren wir unsere Ordnung; unser Fortschrittsziel ist nicht weniger als die universale Herrschaft der Menschen- und Minderheitenrechte. Weltweit. Drunter tun wir’s nicht.

Aber werden wir damit Erfolg haben? Jeder kennt die Antwort: nein. Doch wehe, jemand spricht sie aus. Das erklärt auch die permanente Mobilisierung. Moralisch überspannte, zugleich tief verunsicherte Medienmenschen treiben Politik und Öffentlichkeit dem Endsieg zu. Freiheit für alle! Keine Kompromisse! Keine Relativierungen! Kein Schritt zurück!

Die Hybris gebiert ihre eigenen Widersprüche

Getrieben vom „Furor teutonicus“ schießt die Hybris übers Ziel hinaus. In der Empörung über den russischen Angriffskrieg erwachen kollektive Ressentiments. Das Kind wird mit dem Bade entsorgt, vor hundert Jahren verblichene Literaten und Komponisten büßen für Putins Invasion. Historiker beschwören die despotisch-asiatische russische Herrschaftstradition, das ewige Gestern in den gesellschaftlichen Strukturen.

In den Augen des Publikums wird der osteuropäische Krieg zum „Clash of Civilizations“. Die Briten setzen noch einen obendrauf. In seinem 2021 erschienenen Buch „Germany’s Russia Problem“ konstatiert John Lough ein politisches Zivilisationsgefälle in Europa, das schon die Deutschen (die einstigen „Hunnen“ der britischen Kriegspropaganda) als unsichere Kantonisten erscheinen lässt.
Die Hybris gebiert ihre eigenen Widersprüche. Gehört nicht zu den Grundsätzen europäischer Gerechtigkeit der Satz: In dubio pro reo? Im Zweifel für den Angeklagten? In der Realität schrecken wir nicht einmal vor Sippenhaft zurück. Im Fall des in Deutschland besonders verfolgten usbekisch-russischen Unternehmers Alischer Usmanow stehen sogar Schwestern und Neffen auf der Sanktionsliste. Da reicht ein einziger Zeitungsartikel – schon werden Einreiseverbote ausgesprochen, Konten eingefroren, Vermögen konfisziert.

Wenn die USA und ihre Verbündeten das Völkerrecht brechen, geschieht es im Namen der Humanität
Zu den Widersprüchen gehören die doppelten Standards, ein im Nichtwesten beliebter Vorwurf. Darunter fallen Ereignisse wie der Einmarsch in den Irak 2003, die Sezession des Kosovo 2008, das Nato-Bombardement Serbiens 1999 oder die Annexion der Golanhöhen durch Israel 1981. Der Westen bleibt ungerührt, beharrt auf seinem Narrativ: Wenn die USA und ihre Verbündeten das Völkerrecht brechen, geschieht es im Namen der Humanität, der Freiheit oder moralisch legitimer Normen. Die Übertretung dient der Vermeidung von Blutvergießen und Schlimmerem.

In der Vergangenheit, zumal während der unipolaren Phase nach 1990, blieben derartige Debatten ohne Belang. Die Deutungshoheit über Gut und Böse oblag dem Weltpolizisten USA, da biss die Maus keinen Faden ab. Deng Xiaopings berühmtes Diktum aus jener Zeit – „Verberge dein Licht und wachse im Schatten“ – beweist, wie lebensklug der Vater des chinesischen Comebacks die Realitäten sah. Doch diese Realitäten ändern sich. 2010 überstieg die Wirtschaftsleistung der nichtwestlichen Länder zum ersten Mal seit über eineinhalb Jahrhunderten jene der westlichen. 2013 verkündete Xi Jinping die „Neue Seidenstraße“. 2014 annektierte Wladimir Putin die Halbinsel Krim. Der anstehende Zeitenbruch wurde unübersehbar.

Rückbau der Globalisierung

Vor diesem Hintergrund kommt das dritte Kriterium zum Tragen: die Mobilisierung des Gegners. Die gegen Russland (und andere) gerichteten Strafmaßnahmen zeigen aller Welt die Daumenschrauben im Folterkasten der Amerikaner und Europäer. Das weckt Widerstand, und zwar auch dort, wo man (noch) gar kein Opfer von Sanktionen ist.

Staaten reagieren proaktiv und befreien sich von potenziellen Risiken. Vorrangig betrifft das die weltumspannende Infrastruktur und Arbeitsteilung: Internet, Finanzwesen, Energieversorgung, kritische Rohstoffe und Bauteile, Handelswege. Es kommt zum Decoupling, zum Rückbau der Globalisierung. Dieser Rückbau findet allenthalben statt, in beiden Richtungen, auch in Europa. Und da die Sanktionspolitik vom Westen ausgeht, folgt dem Decoupling eine Block- oder Lagerbildung entlang der neuen Frontlinie Westen versus Nichtwesten.

Die Konsequenzen sind massiv. Wo der Westen weltumspannende Systeme dominiert, arbeiten nichtwestliche Akteure fieberhaft an funktionsfähigen Alternativen, von Finanztransaktionen bis zum Internet. Sie betreiben die Entdollarisierung ihres Rohstoffhandels und investieren in die technologische Aufholjagd. Man kann argumentieren, das seien logische Schritte auf dem Weg zur posteuropäischen Welt. Gefährlich für den Westen ist auch weniger der Verlust seines technologischen Vorsprungs. Gefährlich sind die Block- und Lagerbildungen und die damit einhergehende Konfrontation.

Noch will niemand (außer den Russen) einen Krieg riskieren

Die Hartleibigkeit der westlichen Politik ist jedenfalls mitverantwortlich: die Überdehnung unserer Erwartungen an die nichtwestliche Welt. Diese Erwartungen rühren aus Zeiten, als wir schon aufgrund unserer technologischen, wirtschaftlichen und militärischen Überlegenheit Gefügigkeit einfordern konnten. Doch solche Zeiten sind Vergangenheit.

Noch will niemand (außer den Russen) einen Krieg riskieren, erst recht nicht mit den USA. Noch geht es vorrangig um Augenhöhe – verbunden mit der Bereitschaft zu Sach- und Regelkompromissen auch im sogenannten Eingemachten. Der Ukraine-Krieg wird zur Probe aufs Exempel. Der Westen hat sich aus dem Fenster gelehnt, fordert die Heilung sämtlicher Brüche des Völkerrechts durch Russland seit 2014 – einschließlich der Krim-Annexion. So wird der Kriegsausgang zum Lackmustest des westlichen Standings im 21. Jahrhundert.

Den Preis für Putins fatale Fehlentscheidung zahlen die Kriegsparteien

Russlands Herausforderung der internationalen Ordnung trifft den globalen Westen auf dem falschen Fuß. Er ist zu stark, um Putin den Regelbruch durchgehen zu lassen, zugleich aber zu schwach, um die „internationale Gemeinschaft“ hinter sich zu vereinen. Der solidarisierende Effekt, den der Krieg innerhalb des globalen Westens hat, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass weite Teile der Weltbevölkerung (nicht nur Systemgegner wie China) abseits stehen und die Partie am Spielfeldrand verfolgen.

Der Ukraine-Krieg wird so lange andauern, wie den USA und China gleichermaßen an einer Schwächung Russlands gelegen ist. Wobei Russland an seiner Inkompetenz und Selbstüberschätzung scheitern wird – nicht am überlegenen Geist der regelbasierten Ordnung. Das noch unter der Sowjetunion eurozentrische riesige Reich wird zum Juniorpartner der Chinesen in einer multipolaren Welt. Für Peking ist der rohstoffreiche Nachbar ein Gewinn sondergleichen, ein Meilenstein bei der Rückkehr zu verlorener Weltgeltung.

Den Preis für Putins fatale Fehlentscheidung zahlen die Kriegsparteien: eine beschädigte Generation, eine in weiten Teilen zerstörte Ukraine, Diktatur oder Chaos in Russland. Mit Blick auf den Fortgang der Geschichte wirkt der Krieg wie ein Beschleuniger, ein Katalysator in der Zeit. Die russische Invasion hat uns den Epochenbruch vor Augen geführt, auch wenn sie ursächlich gar nicht wirksam ist. Die entscheidenden Triebkräfte liegen viel tiefer: in den historischen Megatrends der Bevölkerungsentwicklung und der Weltwirtschaft. Daran wird auch das neue westliche Gemeinschaftsgefühl nichts ändern.




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