Wednesday, December 27, 2023

Freiheit oder Totalitarismus? (Beitrag in der DWG - Interview Prof. Dr. Michael Esfeld und Prof. Dr. Dr. Christian Schubert)

Freiheit oder Totalitarismus?

382138196-65894f99a8399-65894f99ab0cb.jpg.cut.n-65894f9a28580.jpg.720px.jpg 

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Die Corona-Jahre haben gezeigt: Viele Bürger waren bereit, ihre Freiheit zugunsten einer vermeintlichen Sicherheit aufzugeben. Grundrechte wurden zur Verhandlungsmasse. Wie erklären Sie sich das?

Michael Esfeld: Zunächst einmal ist ja völlig in Ordnung, wenn Leute ihre Freiheit aufgeben wollen, Orientierung suchen und so weiter. Das tun wir ja alle. Das ist überhaupt kein Problem. Das Problem ist, wenn sie anderen aufzwingen wollen, ihre Freiheit aufzugeben. Also das Problem ist nicht, dass jemand in bestimmter Hinsicht seine Freiheit aufgibt und sich Anordnungen anderer fügt, da Orientierung sucht und sich deswegen an Experten oder meinetwegen Religionsführern oder an wem auch immer orientiert. Das ist überhaupt nicht der Punkt. Da ist jeder willkommen, das zu tun. Der Punkt ist nur, wenn ich anderen etwas aufzwingen will. Ich kann ja versuchen, andere zu überreden. Also ich kann Plakate aufhängen, „Jesus liebt dich“ und sagen, bitte folgt Jesus und so weiter. Aber wenn ich andere dazu zwingen will, ist das ein Problem. Weil Freiheit ja bedeutet, dass jeder sich zu dem, was ihm gegeben ist, an Sinneseindrücken, an Begierden, an Umwelteinflüssen etc. positionieren kann, darüber nachdenken kann und sich selbst überlegen kann, wie sie oder er sich dazu verhalten will. Und da darf man nichts aufzwingen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie erklären Sie sich, Herr Professor Schubert, diese Vehemenz, mit der man versucht hat, anderen ihre Freiheit zu nehmen? War es die Angst vor Corona?

Christian Schubert: Also ich bin der Meinung, dass es bereits eine Art Vorabverwundbarkeit gab. Denn ich denke nicht, dass wir bei Corona in den letzten drei Jahren eine Situation erlebten, die aus dem Nichts kam, sondern ich glaube, dass es da eine gewisse Prädisposition in der Bevölkerung gab, ich würde sogar einen Schritt weitergehen und sagen, in unserer Kultur gab. Und diese Prädisposition hat Menschen bereits seit langer Zeit anfällig dafür gemacht, während einer vermeintlichen Gefahrensituation, wie sie in den letzten drei Jahren bestand, in einen Zustand zu geraten, der unter anderem mit einer Aufgabe der eigenen Freiheit verbunden sein kann.

Aber Vorsicht, waren wir vor Corona überhaupt frei? Ich bin mir da nicht mehr so sicher. Ich frage mich nämlich, ob wir nicht schon länger in einem Menschenbild, in einer Ideologie gefangen sind, die per se mit Unfreiheit in Verbindung steht. Also ich argumentiere aus der Medizin heraus, ich bin Mediziner, und setze mich schon seit vielen Jahren kritisch mit dem reduktionistisch-mechanistischen Menschenbild in der Medizin auseinander. Mittlerweile würde ich jedoch sagen, dass das falsche Menschenbild nicht nur ein medizinisches Thema ist, sondern dass der reduktive Materialismus, der natürlich während der letzten drei Jahre ganz besonders in der Medizin deutlich wurde und dessen Begrenztheit ich erkennen konnte, auch weit über die Medizin hinausgeht und unsere gesamte westliche Kultur umfasst. Das heißt, den Materialismus, den reduktiven Materialismus, also die Idee, dass Leben Stoff ist und auf Stoff reduziert werden kann, den halte ich mittlerweile für ein tödliches, ideologisches und damit auch totalitäres Menschenbild und Unterfangen, in dem wir uns aber seit Jahrhunderten befinden. Der ist nichts Neues.

Ich glaube daher, dass wir längst nicht mehr frei sind. Ich bin der Überzeugung, dass die menschlichen Fehlentwicklungen dieses reduktiven Materialismus wie Industrialisierung, Technisierung, Kapitalismus, Neoliberalismus, ja Transhumanismus, sich immer weiter zuspitzen werden und bereits jetzt in alle Facetten unseres Lebens vorgedrungen sind. Deswegen glaube ich zum Beispiel auch nicht, dass uns irgendwelche Bösewichte ständig die Freiheit nehmen, uns herumjagen wollen und uns die Corona-Pandemie bewusst willentlich aufgebürdet haben. Ich glaube, wir sind der Materialismus. Wir existieren in ihm, er ist in dieser Hinsicht immerzu wirksam, hat sich verselbstständigt, ist an sich totalitär. Auch wenn das vielen nicht bewusst ist. Wenn wir Leute draußen auf der Straße fragen würden, ob sie sich frei fühlen, dann würden die meisten sagen, dass sie in einer freien Gesellschaft und Kultur leben. Genau das bezweifle ich aber. Den Einfluss, den der Kapitalismus mit Hilfe von Soft Power-Techniken wie Framing und andere Formen der Tiefenindoktrination und Meinungsmanipulation auf unser alltägliches Erleben und Verhalten, auf Konsum und Leistung und auf Menschenmaschinen in allen Lebensbereichen ausübt, lässt uns viel weniger frei sein als wir denken.

Michael Esfeld: Also ich würde sagen, wir sind frei. in einer freien Gesellschaft, ganz einfach deshalb, weil wir hier reden können. Also ich nehme an, dass wenn das Video im Netz steht, dann kann es schon passieren, dass es zensiert wird. Aber dann können wir es auf eine andere Plattform stellen. Und ich gehe davon aus, dass heute Mittag, wenn das Video einmal da ist, keine Polizei vor unserer jeweiligen Haustür steht und uns in irgendein Lager abführt. Ich habe gerade heute Morgen im Deutschlandfunk einen Beitrag über den Iran gehört. Darin ging es um zwei Mädchen. Das eine hatte ihren Schleier nicht richtig getragen. Es kam eine Woche ins Gefängnis und wurde gefoltert. Und das andere Mädchen hatte noch ein Flugblatt für Demokratie in der Tasche. Beide waren 15 Jahre alt und das 15-jährige Mädchen mit dem Flugblatt für Demokratie wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Also das ist dann keine freie Gesellschaft. Und das haben wir hier nicht.

Also da denke ich, dass man hier bei uns vieles beklagen kann. Aber in dem Sinne, dass wir unsere Meinung äußern können, dafür auch werben können über Videos etc. haben wir hier eine freie Gesellschaft. Da kommt in der Regel keine Polizei und holt einen ab.

Doch nun zu dem, was Christian als reduktiven Materialismus bezeichnet hat. Ich würde das Szientismus nennen. Der beschreibt den Moment, in dem Wissenschaft übergreift auf den Menschen als Wesen mit Bewusstsein, als fühlendes Wesen, als denkendes Wesen, als handelndes Wesen. Mein Hauptarbeitsgebiet ist eigentlich Philosophie der Physik. Und ich würde auch sagen, die moderne Physik, die von Descartes ausgegangen ist, ist für die unbelebte Natur ja vollkommen richtig. Und sie ist da erfolgreich. Der Fehler besteht jetzt darin aus diesem Erfolg, den Schluss zu ziehen, dass diese physikalische Beschreibung der nicht menschlichen Umwelt alles ist. Das ist das, was Hayek und Popper dann Szientismus nennen. Und Hayek sagt, das ist die Counter-Revolution of Science, also die wissenschaftliche Gegen-Revolution.

In dem Moment, wo es in die Gesellschaft reingeht, wo man sagt, ihr seid selbst nur physikalisch bewegte Objekte, wird es unwissenschaftlich. Und jetzt kommen irgendwelche Experten in Anführungsstrichen, die dann Social Engineering betreiben, also soziale Ingenieurskunst, und uns lenken. In dem Moment wird es totalitär. Das ist dann der politische Szientismus. Und genau das haben wir in der Medizin erlebt, Christian. Da würde ich dir auch vollkommen zustimmen.

Aber inwieweit das jetzt die Mediziner machen, kann ich nicht beurteilen. Ich habe dieses Strategiepapier von Neil Ferguson, dem seinerzeitigen Berater von Boris Johnson, in Erinnerung. Darin steht: wenn es keinen Lockdown gibt, dann gibt es im Vereinigten Königreich 500.000 Tote und in den USA 2 Millionen Tote. Das war im März 2020 und die Prognose für Sommer 2020. Das Problem ist: Darin kamen Menschen überhaupt nicht vor. Der hat Menschen wie physikalische Objekte behandelt, die von alleine nicht reagieren, die nicht selbst denken und die, wenn sie ein Virus kommt, ihr Verhalten nicht anpassen. Die infizieren sich gegenseitig. Als ob ihre Bahnen rein mechanisch wären. Und jetzt muss der Experte eingreifen und dem Politiker sagen, okay, ihr müsst die Bahnen dieser Menschen steuern, die einsperren und sonst was. Und das ist genau das, was du sagst. Das ist genau dieses szientistische Weltbild. Menschen sind auch physikalische Objekte. Aber - und jetzt kommt eben das, das Elitäre da rein, das Platonische - einige Menschen, also der Herr Ferguson zum Beispiel, natürlich nicht. Das ist jetzt die Elite der Lenker. Also ich glaube auch nicht, dass diese Geschichten, wir hätten es mit ein paar Bösewichten zu tun, stimmen. Aber wir haben es mit Personen zu tun, mit einflussreichen Personen, die für sich natürlich die Freiheit in Anspruch nehmen, andere zu lenken. Die nehmen ihre Freiheit in Anspruch und die sprechen anderen, die Freiheit ab. Sie sagen, die Bevölkerung, die Menschen, das sind bloße Objekte. Aber wir sind die Platonischen. Wir wissen das Gute. Wir können die lenken. Und das ist dann ein abscheulicher und totalitärer Cocktail. Also der Szientismus übertragen, plus jetzt dieser Expertenarroganz.

Christian Schubert: Ja, ich glaube, wir sind uns in diesem Punkt sehr einig. Das Einzige was ich noch gerne aufgreifen würde, ist der Unterschied zwischen Hard Power und Soft Power. Weil das, was du erzählt hast über den Iran, das ist Hard Power. Und da scheint Meinungsmanipulation noch mit schierer körperlicher Gewalt möglich zu sein, ohne dass es eine Revolution oder ähnliches zur Folge hat. Aber ich glaube bei uns, den vermeintlich Aufgeklärten, nutzen sie eher Soft Power-Techniken zur Meinungsmanipulation und zur Aufrechterhaltung einer Scheindemokratie.

Wir müssen uns vielleicht mehr mit der Frage beschäftigen, ob nur der Verstand und die Vernunft reichen, um frei sein zu können, oder ob da vielleicht doch noch etwas Übergeordnetes oder wenn man so sagen will Tieferes existiert, etwas, was psychologisch Denkende als unbewusst bezeichnen würden. Dass sozusagen dieser Ratio eine Irratio gegenüberzustellen ist, die einen riesigen Teil ausmacht, wenn es um die Frage der Freiheit geht. So gesehen müssen wir uns auch fragen, ob die oft gepriesene Aufklärung nicht doch eher in Richtung des von dir erwähnten Szientismus geht, also eher den kühlen, rationalen Teil betrifft. Also ich würde die Welt, in der wir uns bewegen, deswegen als unfrei sehen, weil ich mittlerweile den starken Verdacht habe, dass hier enorme Soft Power-Techniken verwendet werden, um über unbewusste Prozesse unser Denken zu manipulieren und unsere Meinungen zu beeinflussen. Wer hingesehen hat, konnte in den letzten drei Jahren sehr gut beobachten, wie uns scheibchenweise Informationen zugespielt wurden mit dem offensichtlichen Ziel, Menschen in Angst zu versetzen. Indem fundamentale Gefühle wie Angst oder Schuld aktiviert wurden, hat man eine Masse, die bereits seit Langem der kulturellen Entfremdung des Materialismus zum Opfer fällt, auf einer tiefen emotionalen Ebene getriggert – es war damit zu rechnen, dass diese verwundete Gesellschaft kippt.

Aber das wurde nicht mit Hard Power gemacht, das wurde alles, wenn man es genau betrachtet, mit Soft-Power-Techniken gemacht. Und diese sind wirkmächtiger. Dabei gehe ich jetzt von einem medizinisch ganzheitlichen, biopsychosozialen und systemtheoretischen Zugang aus, wo Soziales komplexer ist als Biologisches. Also man dreht sozusagen das Ganze um und sagt jetzt nicht wie der Schulmediziner – der szientistische, reduktiv-materialistische Mediziner – das Biologische sei die Ursache für Gesundheit und Krankheit, die Gene, die Moleküle. Das neue Medizinparadigma würde das Ganze umdrehen und sagen, nein, es ist die Kultur, die uns krank macht, es ist die Gesellschaft, und die Gene stehen unter der Kontrolle von immateriellen Faktoren, die offensichtlich weit wirksamer sind. Damit wäre auch Soft Power wirksamer als Hard Power. Also es würde bedeuten, dass Hard Power stofflich und Soft Power feinstofflich ist. Und vielleicht abschließend, ich fand super, was du vorhin mit dem Fehler, aus Unbelebtem auf Belebtes zu schließen, gemeint hast: Also Du hast gesagt, dass wir durch die physikalistische Analyse des Unbelebten wahnsinnig viel in der Wissenschaft geschaffen haben und dass der große Fehler dabei war, all das auf Belebtes zu übertragen und somit letzten Endes Reduktionismus zu betreiben. Genau das sehen wir in der Medizin: Sie ist enorm erfolgreich im Physikalisch-Technischen, wenn es um den Notarztwagen geht und um all diese wunderbaren technischen Fortschritte. Schauen wir uns aber die chronischen Krankheiten an, die immer weiter zunehmen und ein Leben lang andauern, bis ein Mensch dann reparaturbedürftig ist, versagt die derzeitige Schulmedizin kläglich. In der gängigen Schulmedizin wird ja dieses Wissen aus dem unbelebt Technischen auch auf das Belebte übertragen, also in Form von Medikamenten, Operationen, Ratschlägen für Ernährungsveränderungen und Veränderungen der körperlichen Fitness des Menschen. Für eine langfristige Gesundheit gibt man also Tipps, die höchst materialistisch sind und überhaupt nichts damit zu tun haben, wer wir eigentlich sind, warum wir ungesund leben, weshalb wir in so offensichtlich chronischen psychosozialen Belastungssituationen gefangen bleiben, so dass wir dadurch früher oder später krank werden. Also dieser Aspekt des belebten Psychosozial-Kulturellen ist in der Medizin ein Fremdwort, den gibt es da gar nicht. Der wird nicht gelehrt, der wird nicht angewendet, das sind vielleicht ein paar Ganzheitsmediziner, die sich zwar damit auseinandersetzen, es aber auch nicht wirklich gelernt haben. Eine wirkliche Medizin hingegen würde sich mit diesen Grundthemen des Nicht- oder Feinstofflichen in Gesundheit und Krankheit auseinandersetzen.

TEIL 2

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sie haben Descartes und die wissenschaftliche Revolution erwähnt. Lange Zeit und in deren Tradition wurde die Physik auf das rein Materielle reduziert. Inzwischen aber gibt es Physiker, die sagen, Raum und Zeit seien eine Illusion und Materie bestünde im Grunde gar nicht aus Materie. Das hieße ja, dass die klassischen Modelle, wenngleich in der Alltagsphysik natürlich tauglich, die Welt letzten Endes nicht ganz erklären können. Ich will auf den Unterschied zwischen Belebtem und Unbelebtem hinaus. Ob es gewissermaßen ein belebendes Element gibt, das hinter dem Geheimnis des Lebens steht. Und ob wir das ignorieren, uns das Transzentale abhandengekommen ist und wir deswegen, weil wir alles auf das Materielle reduzieren, auch uns selbst, diese übertriebene Angst vor dem Tod haben, die dazu führt, dass wir unsere Freiheit so leicht aufzugeben bereit sind.

Michael Esfeld: Erlauben Sie mir, dass ich als Wissenschaftsphilosoph, zwei Einwände anbringe. Erstens, was Herr Enders über die Physik sagt, stimmt nicht. Physik ist nach wie vor die Wissenschaft von unbelebter Materie und es geht um Orte und relative Abstände von Objekten. In der Quantenphysik ist der Formalismus ein abstrakter geworden, aber natürlich bleibt die Physik kartesisch, der Bezug bleibt auf die ausgedehnte Wirklichkeit. Der ganze Rest, Entschuldigung, wenn ich das so hart sage, ist einfach Spinnerei, mit denen manche Physiker vielleicht nach ihrer Pensionierung Popularität zu gewinnen versuchen, aber Physik ist nach wie vor Physik und Physik funktioniert nach wie vor auch als gute Wissenschaft.

Die Quantenphysik wird uns Quanteninformatik bringen, auch in Innsbruck wird das gemacht. Wir werden irgendwann Quantencomputer haben und die werden in gewisser Weise nützlich sein, genau wie es der Notarztwagen ist oder der Computer, der es uns jetzt möglich macht, dass wir über Zoom reden. Stellen Sie sich vor, wir hätten kein Zoom-Programm, besonders in diesen Zeiten, in diesen letzten drei Jahren. Das wäre doch furchtbar, dann wäre jeder von uns isoliert gewesen und ich hätte Christian Schubert nicht kennengelernt und nicht gewusst, dass es da draußen irgendwo auch andere Menschen gibt, die ähnlich denken. Dann hätte man das machen können wie in der ehemaligen Sowjetunion: Die Kritiker isolieren und psychologisch fertig machen. Heute aber befinden wir uns in einer besseren Situation, weil wir all diese technischen Dinge nutzen können. Deswegen habe ich zunächst mal eine positive Einstellung zu all diesen technischen Dingen und die haben wir, weil die Physik so ist wie von Descartes vorgezeichnet. Sie haben ihren Nutzen. Ein Fehler wäre es meines Erachtens allerdings zu denken, dass da irgendein Lebensinhalt oder ein Lebenssinn drin liegt.

Also ich sehe mich nach wie vor als einen Philosophen der Aufklärung. Und ich bin auch sehr für eine zweite Aufklärung, die emotionale Aspekte stärker in den Mittelpunkt rückt. Nur würde ich doch sagen, dass das, was uns Menschen letztlich verbindet, die Vernunft ist. Was den Glauben an das Transzendente anbelangt, die Frage, worin der Sinn des Lebens liegt, da kann jeder seine Meinung haben. Die kann er auch anderen vermitteln. Aber man kann das nicht bindend für alle machen. Etwas, was uns alle verbindet, ist, denke ich, dass wir alle denkende und handelnde Wesen sind. Damit haben wir eine Würde, die sich nicht materiell erfassen lässt. Und damit haben wir gewisse Grundrechte, die man respektieren muss. Ich denke, das reicht mir zunächst mal als Instrumentarium, um da anzugehen.

Nun mag es Leute geben, denen die reine Vernunft nicht reicht, die sagen, sie brauchen mehr. Und denen würde ich sagen, dass die Sinnsuche eine persönliche Angelegenheit ist, aber keine von Gemeinschaften. Also bleibe ich soweit in der Aufklärung gefangen als ich sage, dass nichts universalisierbar ist. Und vor allen Dingen gibt es nichts, dass ich irgendjemanden aufzwingen kann. Ich kann versuchen, Leute zu überreden, aber ich kann ihnen eben nichts aufzwingen. Also dafür ist ja auch ein Staat da. Er sorgt dafür, dass die Menschenrechte beachtet werden. Und was jetzt innerhalb der letzten drei Jahre geschehen ist, ist, dass der Staat vom Rechtsstaat zum Unrechtsstaat geworden ist. Der selbst Menschen grundlos einsperrt. Wir haben auch gesehen, dass auch in Deutschland Gewalt angewendet wurde, denn der Lockdown ist eine Gewaltanwendung. Und dann das Einsperren von Ärzten, die einfach nur ihre Pflicht als Ärzte getan haben, indem sie Menschen vor bestimmten Therapien, die ihnen aufgezwungen werden sollten, gerettet haben etc. Also das sind schon bedenkliche Züge.

Christian Schubert: Ich glaube, wir sind hier an einem wesentlichen Punkt angelangt. Ich glaube, dass es die reine Vernunft nicht gibt, sie scheint szientistisch überhöht zu sein, zu linear, zu kühl. Vernunft ist doch immer mit Gefühlen verbunden, von tiefliegenden psychischen Konflikten beeinflusst und komplex. Also angenommen ich habe eine tiefe Angst vor Liebesverlust und richte all mein Denken und Handeln darauf aus, einen solchen zu vermeiden. Das ist etwas ganz Fundamentales und ich würde sagen auch Universelles. Das betrifft jeden Menschen mehr oder weniger. Es ist die grundlegende Angst allein zu sein, die grundlegende Angst wertlos zu sein, nicht liebenswert zu sein. Nehmen wir mal diese ganz basale menschliche Seite an, die jetzt mit der von dir beschriebenen Physik überhaupt nichts zu tun hat. Das ist eine ganz andere Welt. Gerade aus meiner klinischen und psychotherapeutischen Erfahrung heraus würde ich dem, was ich gerade gesagt habe, eine fundamentale Bedeutung attestieren. Also das ist jetzt kein Epiphänomen. Das ist wirklich ganz fundamental menschlich.

Wir können doch nicht nur auf die Vernunft schauen, auf das Bewusste. Vernunft und Ratio würde ich jetzt sehr stark auf die bewusste Seite stellen. Und dem würde ich unbedingt etwas ganz Tiefes, Großes beiseitestellen wollen. Das ist wie bei einem Eisberg, wo oben ein kleiner Teil sichtbar ist und unter Wasser der größte Teil liegt. Das wird immer gerne als Verbildlichung des Bewussten und Unbewussten herangezogen. Und jetzt frage ich mich: Ist in der Aufklärung, wie du sie kennst, dieser Aspekt überhaupt vertreten oder wussten die das damals gar nicht? Ein bisschen hatte ich den Eindruck, dass auch die „Kritik der reinen Vernunft“ in diese Richtung gehen könnte.

Also etwa in dem Sinne, dass Kant überlegt, dass es reine Vernunft gar nicht geben könne. Damit müsste man sich vielleicht einmal kritisch auseinandersetzen. Vielleicht hat das Kant schon geahnt, aber, was das Unbewusste anbelangt, kam es ja letztendlich erst während des Übergangs zum 20. Jahrhundert mit Freud zu einer wirklichen, wissenschaftlichen Debatte. Davor mag es auch schon sehr starke Tendenzen gegeben haben, sich damit auseinanderzusetzen. Ich denke an Dostojewski, man muss ja nur „Schuld und Sühne“ lesen. Ich frage mich, ob Freud davon beeinflusst war, denn Dostojewski spielt ja in seinem Werk förmlich mit unbewussten Schuldaspekten. Ich habe sehr den Eindruck, dass es einen langen Vorlauf gab, bis Freud das Ganze dann wissenschaftlich formulieren konnte. Aber ich frage dich jetzt und da wäre für mich der Schnittpunkt. Reden wir vom Selben oder ist es etwa so, dass in der Aufklärung, von der wir üblicherweise sprechen, das Unbewusste gar kein Thema ist?

Michael Esfeld: Ja es ist kein Thema, aber es ist trotzdem bewusst, dass es da ist. Was Kant betrifft, so sind da diese drei Fragen: „Was kann ich wissen?“ - Das ist die Kritik der reinen Vernunft, also Erkenntnistheorie. „Was soll ich tun?“ - Das ist die Moralphilosophie. Es bedeutet auch, dass man jeden Menschen seiner selbst wegen respektieren sollte. Und: „Was darf ich hoffen?“ Also alles was du sagst, könnte man jetzt bei Kant unter die Frage stellen: „Was darf ich hoffen?“ Das was jenseits der Ratio ist. Und um die Aufklärung, also diese Aufklärung des 18. Jahrhunderts zu verteidigen, würde ich sagen, die Ratio reicht als Basis für eine öffentliche Ordnung für den Staat. Denn dessen Aufgabe ist es nur sicherzustellen, dass die Würde aller Menschen als Zweck an sich respektiert wird. Weiter sollte der Staat auch gar nicht gehen, weil er sich nicht um den Bereich des Unbewussten, der Hoffnung, des Ganzheitlichen kümmern soll. Das ist einfach nicht seine Aufgabe.

Das Problem, das ich sehe, dreht sich gar nicht so sehr um dieses zweite „Was soll ich tun?“, sondern darum, dass grundlegende Normen nicht mehr respektiert werden und die öffentliche Ordnung kein Rechtsstaat mehr ist. Und das kann ich zunächst mit Vernunft als Instrument angehen. Vernunft ist ja immer nur ein Instrument, um zu gewissen Schlüssen zu kommen. So ist in der Wissenschaft Vernunft ein Instrument gegen Autorität. Da müssen harte Belege her, um einen Erkenntnisanspruch zu begründen. Und zweitens kann ich mit Vernunft begründen, dass alle Menschen gewisse Grundrechte haben, die darin bestehen, dass sie Zwecke an sich selbst sind. Also ich darf nie Menschen als bloßes Mittel gebrauchen. Und das würde ich sagen, das reicht jetzt erstmal. Also wenn das respektiert werden würde, dann wäre, was die öffentliche Ordnung betrifft, was Staat, Gerichte, Polizei und sowas Gesetze, also Gesetze im Sinne des positiven Rechtes betrifft, in Ordnung. Und dann bleibt noch ein ganzes Feld offen für das, was du Ganzheitlich nennst. Und da müsste einfach Freiheit herrschen. Also was wir erlebt haben, ist ja, dass aus diesem reduktionistischen Materialismus heraus massive Machtansprüche erhoben und uns aufgezwungen wurden. Und da reicht Vernunft als Mittel, denke ich, um zu sagen, nein, das ist nicht in Ordnung, da muss wieder Freiheit gelassen werden und eben auch der Freiraum, dass sich das, worauf du, Christian, Wert legst, entwickeln kann.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Kann man denn Werte aus der Ratio ableiten, aus der Vernunft? Also sie sagen, Freiheit ist ein Wert, aber die Vernunft ist ja reine Logik. Wie begründe ich rein aus der Vernunft heraus, dass Freiheit ein Wert an sich sei? 

Michael Esfeld: Die Vernunft sagt uns, dass jeder ausgestattet ist mit der Freiheit in Denken und Handeln und deshalb, das ist etwas Normatives, diese Freiheit auch respektiert werden muss. Und dann ist Freiheit der Wert, der vernünftig begründet werden kann. Was dann an weiteren Werten dazukommt, ist, würde ich sagen, jenseits der Vernunft.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was ist mit der Liebe? Sie ist etwas Universelles, lässt sich aber aus der Ratio nicht ableiten - oder?

Michael Esfeld: Ja, ich denke die Liebe ist ein gutes Stichwort. Aber können Sie alle Menschen lieben? Gott kann das vielleicht. Was mich betrifft, so kann ich alle Menschen als Personen respektieren, aber sorry, es gibt eine ganze Reihe von Menschen, die sind mir unsympathisch, zu denen kann ich keinen emotionalen Bezug entwickeln. Also ich respektiere die als Menschen, die haben ihre Rechte, die können auch ihre Meinung sagen, auch wenn ich diese Meinung für falsch oder abscheulich oder sonst was halte, aber einen emotionalen Bezug habe ich nicht. Aber da ist ja der Punkt, natürlich muss ich trotzdem, bin ich verpflichtet, diese Menschen zu respektieren, die haben ihre Würde, die haben ihre Rechte, die können ihre Meinung sagen und so weiter, aber der emotionale Bezug ist nicht universalisierbar: Ich kann nicht alle Menschen auf der Welt lieben, ich kann nicht allen Menschen auf der Welt helfen, etc.

Christian Schubert: Aber kannst du dir vorstellen, Michael, dass es möglich ist, die Menschen dazu zu bringen, bestimmte Menschen gern zu haben? Etwa diese Pharma-Unternehmer, die uns gerade mit so viel Macht vor sich hertreiben?

Michael Esfeld: Das weiß ich nicht, die Außendarstellung ist natürlich manipulativ. Und so mag es Leute geben, die einen positiven emotionalen Bezug zu dieser Personengruppe entwickelt haben und denken, dass sie von ihnen gerettet wurden. Es hieß ja, dass wir ohne Lockdown und Impfung alle sterben würden. Nun, wir leben nach wie vor fröhlich, sind also der Gegenbeweis.

Christian Schubert: Noch mal nachgehakt: Die Vernunft, die du vorhin ins Spiel gebracht hast, ist die eigentlich rein und ungetrübt oder kann die manipuliert werden? Kann ich nicht über Framing und Soft-Power-Techniken versuchen, die Menschen in eine bestimmte Richtung zu bringen, etwa über die Manipulation ihrer Ängste, ihrer Schuldgefühle, über Solidaritätsideen oder was auch immer? Ist das dann noch Freiheit? Josef Pieper prägte den Begriff der Pseudo- bzw. Scheinrealität. In einer Pseudorealität befinden sich psychisch gestörte, verängstigte Menschen und reimen sich die normale Welt so zusammen, dass sie ihnen möglichst nicht wehtut. Verängstigte Menschen tun alles, um Angstmachendes zu vermeiden, sie leugnen die normale Realität, argumentieren in ihrer eigenen Logik, also paralogisch, und verhalten sich paramoralisch, indem sie jeden, der ihnen widerspricht und damit ihre Pseudorealität in Frage stellt, bekämpfen. Zur Not mit Mitteln, die zur Hard Power zu zählen sind, wie beispielsweise die Impfpflicht. Sind Menschen, die sich in einer derartigen Pseudorealität befinden, frei? Und sind wir nicht alle in unseren jeweils persönlichen Pseudorealitäten gefangen? Ich glaube, wir müssen Begriffe wie Aufklärung und Freiheit neu definieren.

Michael Esfeld: Wenn jemand versucht, anderen durch Softpower etwas aufzuzwingen, ist das nicht in Ordnung. Und das haben wir jetzt. Dagegen kann man mit Aufklärung vorgehen, indem man versucht, die entsprechenden Mechanismen aufzudecken, Bewusstsein in der Bevölkerung zu wecken, etc. Allerdings sehe ich das, was man Nudging nennt, schon als Problem. In dem Moment, wo der Staat, wo die Polizei auch mit unseren Steuergeldern, Nudging betreiben, gegen das wir uns nicht wehren können, ist das ein Problem. Wir haben das beispielsweise gesehen, als der Staat uns eine bestimmte Gesundheitsphilosophie aufzwingen wollte und explizit versucht hat, uns die Freiheit zu nehmen. Wenn Leute hingegen versuchen, anderen implizit die Freiheit zu nehmen, indem sie ihnen etwas aufschwatzen, ob Coca-Cola oder Zigaretten, ist das schwer zu fassen. Ich denke, das sind zwei Ebenen. Die eine ist die Ebene der Werbung. Die andere Ebene ist, wenn der Staat Lockdowns anordnet, Leuten Impfungen aufzwingt und so etwas. Das ist dann ein Staatsverbrechen, dann wird der Rechtsstaat zum Unrechtsstaat und da kann ich sagen, dass das muss jetzt verhindert werden, das darf der Staat nicht.

Infos zu den Personen: 


Prof. Dr. Michael Esfeld ist seit 2002 Professor für Philosophie an der Universität Lausanne und Mitglied des Akademischen Beirats des Liberalen Instituts. Er ist seit 2010 Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, 2013 erhielt er den Forschungspreis der Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Er ist Autor u. a. von „Philosophie der Physik“ und „Wissenschaft und Freiheit“, kürzlich ist von ihm „Land ohne Mut“ erschienen.

Univ.-Prof. Dr. Dr. Christian Schubert ist Arzt, Psychologe und Ärztlicher Psychotherapeut mit tiefenpsychologischer Ausrichtung. Seit über 25 Jahren erforscht er die Wechselwirkungen von Psyche, Gehirn und Immunsystem. Er ist Leiter des Labors für Psychoneuroimmunologie am Department für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie der Medizinischen Universität Innsbruck und Autor zahlreicher vielbeachteter Fachpublikationen und Sachbücher. Sein wissenschaftlicher Schwerpunkt ist die Entwicklung eines Forschungsdesigns zur Untersuchung psychosomatischer Komplexität, die Integrative Einzelfallstudie.


 

No comments: